Offener Brief anlässlich der sogenannten "Herbstkampagne" der christlich-fundamentalistischen Initiative "40 Tage für das Leben"

Plakat von einer Münchner Kundgebung gegen christliche Abtreibungsgegner*innen am 20. März 2021
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Das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung München spricht sich in einem Offenen Brief an die Stadtpolitik dafür aus, dass alles dafür getan wird, den Schutz von ungewollt Schwangeren sicherzustellen und ihre Rechte über die der sogenannten "Lebensschützer" zu stellen. Das Bündnis fordert, dass jene Orte, an denen Schwangere Hilfe suchen, in Zukunft geschützt werden, dass die Persönlichkeitsrechte von Schwangeren geschützt werden, Schwangerschaftsabbruch entkriminalisiert wird und dass die "Gehsteigbelästigung" von Schwangeren ein Ende hat. Hier der Offene Brief im Wortlaut:
  
"Ende September 2022 starten die Dauermahnwachen der Initiative "40 Tage für das Leben" in mehreren Städten - in München voraussichtlich auch, es wäre die 13. Kundgebung dieser Art. Dies bedeutet, dass erneut christliche Fundamentalist*innen mit Plakaten und Gebeten ungewollt Schwangere belästigen und unter Druck setzen werden, die dort nach Unterstützung suchen.
 
In den letzten Jahren fand diese Form der Gehsteigbelästigung schwerpunktmäßig vor dem medicare Gesundheitszentrum in Freiham statt. Die aus den USA stammende Initiative ist jedoch nicht die Einzige, die in München aktiv ist. Vielmehr protestieren Abtreibungsgegner*innen von den "Helfern für Gottes kostbare Kinder" hier im monatlichen Rhythmus, im Rahmen der sogenannten "Gebetsmärsche" vor der Beratungsstelle von pro familia oder vor gynäkologischen Kliniken in der Nymphenburger Straße. Auch dort erschweren selbsternannte Lebensschützer*innen den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen, indem sie vor den Einrichtungen demonstrieren und keinerlei Rücksicht auf die Lage unterstützungssuchender Patient*innen und Klient*innen nehmen.
 
Versorgungslage für Schwangerschaftsabbruch verschlechtert sich
 

Dass die Gehsteigbelästigung einen gravierenden Effekt auf die Versorgungslage bei Schwangerschaftsabbrüchen hat, ist schon lange bekannt: In Bezug auf die Stadt München ist ein im November 2020 im Stadtrat diskutierter und beschlossener Antrag [1 & 2] zu nennen, der deutlich machte, dass die Versorgungslage bei Schwangerschaftsabbrüchen auch in unserer Stadt immer schlechter wird. Die Dokumente zeigen, dass die Aktivitäten radikaler Abtreibungsgegner*innen direkten Einfluss auf die Versorgungslage haben.
 
Der Antrag vom November 2020 legt dar, dass
  1. Zum Zeitpunkt der Datenerhebung in München nur 39 Ärzt*innen gemeldet waren, welche die Erlaubnis haben, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die genannte Erlaubnis nicht bedeutet, dass die Ärzt*innen Abbrüche auch durchführen.
     
  2. Die Altersstruktur der Ärzt*innen ein erschwerendes Problem darstellt. 27 der insgesamt 39 Befragten gaben an, über 60 Jahre (fünf davon über 70 Jahre) alt zu sein. Mehr als die Hälfte von ihnen gaben an, voraussichtlich nur noch weniger als zehn Jahre zu praktizieren.
     
  3. Sich die Suche nach Nachfolger*innen als äußerst problematisch darstellt. Nach Aussagen der befragten Ärzt*innen erschweren die Belästigungen und Demonstrationen radikaler Abtreibungsgegner*innen die Suche nach Nachfolger*innen. Die Tatsache, dass in München nur einige Kliniken in die Versorgung mit Schwangerschaftsabbrüchen eingebunden sind, führt dazu, dass die Orte einer entsprechenden Ausbildung sich auf wenige beschränken
     
  4. Nicht genügend Räume zur Verfügung stehen, was sich auf die Versorgungslage negativ auswirkt. Laut Umfrage ist einer der Hauptgründe für die Schwierigkeit überhaupt Räumlichkeiten zu finden, dass jene Kliniken, die Räume für Schwangerschaftsabbrüche zur Verfügung stellen, oft Probleme mit fundamentalistischen Gruppierungen bekämen.

Gegner*innen der reproduktiven und sexuellen Selbstbestimmung rekrutieren sich aus konservativen bis extrem rechten Kreisen unserer Gesellschaft. Diesen antifeministischen Akteur*innen und Gruppen ist die Vorstellung, dass Menschen selbst über ihre Körper, ihre Gesundheit und Wohlbefinden entscheiden, ein Graus. Die einen argumentieren dabei völkisch-nationalistisch, biologistisch,
andere mit ihrem Glauben. Menschenverachtend sind sie dabei alle und dennoch dürfen die Gruppierungen seit vielen Jahren schalten und walten, wie sie möchten.
 
Persönlichkeitsrechte schützen!
 
Ein vom Gunda-Werner-Institut in der Heinrich-Böll-Stiftung in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten (siehe: http://www.gwi-boell.de/de/rechtsgutachten-zur-verbesserung-des-zugangs…) kommt zu dem Schluss, dass das Persönlichkeitsrecht der schwangeren Person, welches im Falle einer frühen Schwangerschaft der besonders schützenswerten Intimsphäre zuzuordnen ist, in der Regel schwerer wiegt als die Meinungsfreiheit oder das Versammlungsrecht sowie die Religionsfreiheit der Abtreibungsgegner*innen.
Das bedeutet, dass es die Möglichkeit gibt, Versammlungen christlich-fundamentalistischer Abtreibungsgegner*innen außerhalb von Hör- und Sichtweite von Beratungsstellen und Kliniken bzw. Praxen stattfinden zu lassen. Es ist folglich frauenfeindlich darauf zu beharren, dass sich Schwangere der "Diskussion" stellen und die "Meinung" radikaler Abtreibungsgegner*innen aushalten müssten. Was es braucht, ist ein Perspektivwechsel, der die Betroffenen ins Zentrum rückt. Denn schließlich beschränkt mit einer Verlegung von
Kundgebungen niemand die Versammlungs-, Meinungs- oder gar Religionsfreiheit der Abtreibungsgegner*innen – es geht schlicht darum, dass Betroffene sich den Zeitpunkt der Auseinandersetzung selbst wählen.
 
Wir fordern, dass jene Orte, an denen Schwangere Hilfe suchen, in Zukunft geschützt werden.
 
Wir fordern, dass die Persönlichkeitsrechte von Schwangeren geschützt werden.
 
Wir fordern die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbruch - weg mit §218 StGB!

 
Quellen
[1] Beschluss zum Antrag „Drohendem Versorgungsengpass bei der Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen entgegensteuern“ vom 12.11.2020.
[2] Alle Dokumente rund um den Antrag inklusive Stellungnahmen, Änderungen im Antrag, etc.
[3] https://risi.muenchen.de/risi/sitzungsvorlage/detail/6175116"